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Der Geschmack von Leben
- Details
- Kategorie: Buntes Allerlei
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Vorweg: In Anlehnung an die Eröffnungsszene des Films möchte ich a) überdenken, in welchem Setting ich künftig rezensiere und b) Antje zu einer Lesung aus meinen Büchern einladen :D - aber jetzt mal im Ernst. Der neue wtp Film enttäuscht nicht, vielmehr denkt man am Schluss: Schade, schon vorbei - fast wie beim Oralverkehr.
„Dieses Jahr machen wir einen Film.“
Das war die erste Idee. Und es war der 1. Juni.
„Wer will mitmachen?“ (Zitat: www.wtpfilm.com)
Über den Film
Dass es sich bei "Der Geschmack von Leben" um eine wtp-Produktion handelt, wird auch ohne Branding schnell klar. Ohne Frage steckt wieder jede Menge Herzblut in der Sache. In den Episödchen jagt uns Reber wieder durch die aus vorherigen Filmen bekannten surrealen Bildwelten, die mal mehr, mal weniger subtil von moralinsauren Strömen durchflossen werden, um uns zu ermahnen, nur ja nicht den Rattenfängern von WEIL und WARUM zu folgen. Aufgemacht ist die Story recht medienaffin in der Form eines virtuellen V-Logs, das die unbedarfte und sehr natürlich wirkende Nikki führt. Sie interviewed Menschen und vergleicht ihre Lebensweisheiten miteinander. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit sinniert sie über den Geschmack von Sperma und Hofer Bratwurst, während sie dem Zuschauer die Entscheidung zur "Fi[c]ktion des Monats" nahelegt.
Doch der Schein spielerischer Trivialität trügt. Einmal mehr führt Reber uns die Banalität des vermeintlich geordneten, zivilisierten Seins in seiner nackten Albernheit vor Augen. Der Film lässt nicht nur im Bild die Hüllen fallen, er reißt dem Kaiser förmlich die neuen Kleider vom Leib, wenn er sich hemmungslos über Moral, Gesetze und den "Common Sense" lustig macht.
Die offene Art, mit gelebter Sexualität umzugehen und diese als völlig natürlichen Teil menschlichen Daseins öffentlich zu zelebrieren, pendelt irgendwo zwischen pornöser Kunst und künstlichem Porno, dies zu deuten bleibt im jedem Falle dem Zuschauer überlassen. Einschlafen wird wohl niemand im Kino bei der Vorführung. Na klar: Sex sells, aber der visuelle Weckruf, den Reber hier tatsächlich ausstößt, dürfte wohl nur sehr wenige in den Rängen erreichen.
Der Film präsentiert verschiedene Frauen- und Männerbilder, wobei Reber hier natürlich - Schelm, wie er nun einmal ist - mitunter bis zur Grenze der Erträglichkeit karikiert. Das allerdings ist in keinster Weise wirklichkeitsfremd, denn wir alle kennen diese Typen, die hier dargestellt werden.
Highlights
Das fraglos größte Highlight des Films ist der unbändige Wille zur Kreativität, mit dem Reber aus einer schweren gesundheitlichen Krise heraus zurück an die Arbeit fand. Und das ist wirklich ein "Geschenk des Himmels" - wenn man so will. Dieser Mann lässt sich vom Teufel nicht in die Suppe spucken, und er hat das große Glück, ein Team um sich herum zu wissen, das mit ihm durch Dick und Dünn geht.
Minute 18: Nach Muttchens Moralpredigt kommt jede Lust zum Erliegen. Jesus steigt genervt von der Wand herab. Ihm tut's Kreuz weh. Später wirkt er ein wenig zu luziferisch für einen Heiland und bekommt offenbar Tourette. Nikki trocken: Kommt noch jemand, oder können wir anfangen?
Minute 50: Reber doziert im Hintergrund über die Determiniertheit der Sexualität, derweil Nikki einem Parkplatzfreier das Scrotum erleichtert. Unbezahlbar! Wohl bekommt's!
Minute 57 etc. Die schrägen Interludien, mit denen uns der weiße Rauscheengel quält, reißen herrliche Löcher in den Lauf der Geschichte. Mira Gittner als Ian Anderson im Engelskostüm - darauf muss man erstmal kommen!
Minute 87: "Nikki und die nackten Männer" - der Spruch erinnert schwer an eine grottenschlechte Zeichentrickserie aus den Siebzigern. Platt - aber witzig.
Aber: Seht selbst!
Fazit
Reber enttäuscht sein Publikum einmal mehr nicht im Ansatz. Settings, Licht, Dialoge - wie immer ein Feuerwerk unerwarteter Wendungen. Minimalistisch, Low-Budget, aber immer treffsicher stimmungsvoll. Edeltrash at it's finest!
In einer Serie von tiefgehenden Produktionen, deren Reigen eigentlich mit 24/7 eröffnet wurde, legte der Regisseur erneut - nun schon zum mindestens sechsten Mal - den Finger in die eiternde Wunde einer moralisierenden Gesellschaft, die sich seit Jahren zunehmend verschlimmbessert. Vor lauter Genderisierung, plakativ demonstrierter Toleranz und kultureller Verwässerung verlernt die Menschheit das Wichtigste: SELBST SEIN. Diese Botschaft transportiert das Team von wtp zum wiederholten Male, wobei hier - auch nicht zum ersten Mal - der persönliche Einsatz aller Mitwirkenden gelobt werden muss. Als Zuschauer gewinnt man den Eindruck, den Darstellern ist es ernst mit dem, was sie da vor der Kamera zum Besten geben.
Oh, unsere Gesellschaft ist ja dermaßen metrosexuell, multitolerant und innovationsaffin, dass sie Rebers bisweilen ruppige Art, mit ihren moralischen Kleinodien umzugehen, sicherlich verschmerzen wird, so sie es denn geruht, zu bemerken, denn im Mainstream möchte man die "Nackerten" ja nicht so gern haben, davon kann Antje gewiss ein Liedchen singen. Singen kann sie ja :D
[Edit 16.11.2017: Nachdem wir den Link zu diesem Beitrag bei Facebook gepostet haben, wurde unser Redakteur erstmal für 3 Tage dort gesperrt. Soviel zur Toleranz.]
Für Menschen, die bereit sind, ihre eigenen Glaubenssätze zur Disposition zu stellen und sich auch vor Erschütterungen nicht fürchten, ist "Der Geschmack von Leben" eine absolute Bereicherung, ein experimenteller Ausflug in das "und was wäre, wenn?" - angeleitet von einer Reiseführerin, die apart und frivol an den Grundfesten bürgerlicher Moral kratzt, resp. lutscht. Einer Moral im übrigen, die angesichts einer feuchten Öffnung im Fleisch nur allzugern temporär ad acta gelegt wird, um später, wenn das Blut ins Gehirn zurücksteigt, im wiedererwachten Schuldbewusstsein und aufkeimender Scham als Keule hervorgeholt zu werden.
Absolut bemerkenswert ist, wie aus dem Zusammenspiel der Geister im wtp-Team stets aufs Neue ein orgiastisches Fraktal emaniert, das sich durch den ganzen Film zieht und tatsächlich zu einem in sich geschlossenen Ganzen kondensiert. Reber versteht es fantastisch, diese verschiedenen kreativen Strömungen zusammenzuführen, sie zu bündeln und in eine definierte Richtung zu lenken. Er ist wie der Lotse an Bord eines Ozeanriesen, der das Projekt in sicheres Fahrwasser lenkt, ohne es zu verfälschen oder auf Grund zu setzen.
„Für mich sind Schauspieler oder die Filmcrew nicht Erfüllungsgehilfen der Regie oder eines Autors, sondern kreative Künstler, die ihre Rollen selbst gestalten. Zum Dompteur eigne ich mich nicht. Vielmehr sehe ich mich als Dirigent, der die Zusammenarbeit der Solisten koordiniert und sie so zu einem harmonischen Orchester zusammenfügt. Jeder ist Teil des kreativen Prozesses, sowohl diejenigen vor, als auch hinter der Kamera. Das ist meine Definition von TEAMWORK“(Roland Reber)
Erwähnenswert übrigens der Monolog von "Nikki" ab Min. 6:30, sie geht scheinbar beiläufig auf einige höchst spirituelle Verhältnisse der Sexualität ein, über die man gern einmal vorurteilsfrei nachdenken darf. In diesem Sinne: Schlucken, Mädels, nicht Spucken!
Zum Film gehts hier entlang: http://www.geschmackvonleben.com/